2016-01-20

#rpTEN-Speaker Richard Sennett: Machen ist Denken und vice versa

Wer das diffuse Internet und seine Auswirkungen auf den Menschen von einem Experten erklären lassen will, greift nicht unbedingt zu einem Zitat von Richard Sennett, Centennial Professor für Soziologie an der London School of Economics und an der New York University. Das ist überaus bedauerlich. Denn nicht nur in Suchmaschinen findet man "The Digital Wisdom of Richard Sennett". Der Spezialist für soziale Beziehungen in Städten untersucht nicht nur die Auswirkungen des Lebens im vorherrschenden Wirtschaftssystem. Ebenfalls liefert er wertvolle Erkenntnisse über gleichermaßen ephemere Lebens- und Aktionsräume, wie dem Internet.

So hat Sennett in seiner langen Wissenschaftskarriere unter anderem einem Forschungsprojekt vorgestanden, das Mittzwanziger aus der Finanz- und IT-Welt und den Neuen Medien zu ihren Arbeitsbedingungen befragt. "Sie sind verwirrt", sagt er. "Alle glauben, die nächste Martha Lane Fox zu werden. Aber sie lernen auch schnell, dass diese Fantasiewelten nie war werden können. Sich nie verpflichten, niemals abhängig sein, ungebunden bleiben. Treue ist ganz weit unten auf der Liste. Wenn man aber tatsächlich überzeugt ist, dass Abhängigkeit schlecht ist, führt das zur Entwicklung von geschädigten Menschen." Er diagnostiziert einen "Mangel, das eigene Leben zu beherrschen".

Sennett ist erfolgreicher "Public Intellectual". Als intellektueller Autor und Denker deckt er eine große Bandbreite an Spezialgebieten ab und wird deshalb häufig angerufen, um uns als Gesellschaft zu erklären, wer wir sind und wie "wir" zu dem geworden sind, was "wir" sind. Sennetts Publikationen umspannen die thematischen Disziplinen von Architektur über Design, Musik, Kunst, Literatur und Geschichte, bis zu politischer und ökonomischer Theorie. Und all dem mischt er eine gute Portion des raren anthropologischen Hungers nach Details bei. Das "Machen als Denken" und andersherum findet sich bei ihm vielleicht am ehesten in seinen virtuosen Cello-Künsten wieder. In London spielte er einst in einem kleinen Kammerorchester mit dem ehemaligen Guardian-Chefredakteur, Alan Rusbridger, an der Klarinette. Man darf sich diese Abende sicher wie eine Zusammenkunft zu den Hochzeiten der klassischen literarischen und philosophischen Salons vorstellen.

Sein Schreiben umkreist insbesondere soziale Ungleichheit, die Auswirkungen städtischen Wachstums auf das Individuum und die Verbindung von Macht, Moderne und öffentlichem Leben. Das städtische Leben mit seinem Versprechen von Anonymität und dennoch Gemeinschaft bietet immer wieder neuen Stoff zum Nachdenken. In seinem Buch "The Uses Of Disorder" beobachtet der Soziologe beispielsweise: "Städte führen uns eine Art ausgleichendes Chaos vor Augen." Gleiches könnte man auch über den digitalen Raum behaupten. Im besten Fall liest sich seine Soziologie wie ein subtiler psychologischer Roman, eine mitreißende Biographie oder guter Journalismus. Es erfüllt reichlich seinen Anspruch darauf, ein "Bericht über den Akt des Denkens" zu sein. Sein Ziel, sagt er, ist die Soziologie wieder zu einer Form der Literatur zu machen (die sie zunächst auch war).

Derzeit arbeitet Sennett am Abschluss seines dreibändigen Projektes "Homo Faber", das die Auswirkung der materiellen Kultur auf das menschliche Denken unter dem Leitgedanken "Machen ist Denken" erforscht. Und selbst abstrakte Spielarten des Denkens wie Mathematik haben im Endeffekt eine stoffliche Grundlage, wie etwa den Abakus. Das erste Buch der Serie ist "The Craftsman", erschienen 2008. Weitere Bände heißen "Together: The Rituals, Pleasures, and Politics of Cooperation" von 2012 und der finale Band zum Urbanmachen in einer städtischen Umgebung. In diesem, noch zu veröffentlichenden Werk werden auch Maker-Kulturen im Umfeld des Netzes beschrieben.

Sennett sagt: "Die materielle Welt spricht ständig zu uns, durch ihre Gegenwehr, ihre Unklarheit, durch die Art, in dem sie sich Veränderungen anpasst. Die Aufgeklärten sind jene, die sich diesem Dialog anschließen können und dadurch eine 'intelligente Hand' entwickeln." Seine Rückschlüsse und Thesen sind eindeutig einem eher linken Spektrum zuzuordnen. Obwohl seine Forschung die Diagnosen der amerikanischen Gegenkultur meist stützten – aus deren Klima und Umfeld einst ebenfalls die ersten Tech-Startups hervorgingen (siehe hierzu Steward Brand und der Whole Earth Catalogue), sah man dort anfangs seine akademische Analysen nur ungern:

"Als ich in den 1960er-Jahren anfing, war das linke Spektrum recht fieberhaft. Als Reaktion auf den ganzen Bullshit der Gegenkultur trieb ich davon weg. Ich hatte den ganzen Anti-Intellekualismus satt, die Ablehnung von seriösen Ideen und seriöser Kunst und die Messung von Realität durch psychologische Kategorien des Augenblicks, den Schwerpunkt auf sofortige Befriedigung."

Aus diesem Selbstverständnis erklärt sich auch das Entstehen des New York Institute of Humanities, das Sennett mitbegründete und seit den späten 1970er-Jahren leitete. Dieses hatte den Austausch von Wissen und Ideen zwischen Wissenschaftlern und der breiten Öffentlichkeit zum Ziel. Stipendiaten waren unter anderem Michel Foucault, Susan Sonntag und auch Sennetts Frau, die Ökonomin Saskia Sassen. Auf der re:publica 2014 hielt sie einen großartigen Vortrag über Komplexität und Machtstrukturen in der globalisierten Wirtschaftswelt (zur Videoaufzeichnung). Sennett beschreibt das Institut als Versuch "der Gestaltung eines intellektuellen Zentrums von 'Stadt und Umhang' durch die Vereinigung der akademischen Welt und den Verlagen mit der Welt der SchriftstellerInnen, MusikerInnen, DiplomatInnen, JournalistInnen, PolitikerInnen, KünstlerInnen… eine Art 'All Souls College' [University of Oxford] mit schlechtem Essen und viel guten Gesprächen." Schöner könnten wir uns auch die Jubiläums-re:publica nicht vorstellen.

@richardsennett

Bildernachweis: Richard Sennett, Foto von Thomas Struth