2016-04-14

#Guest Contribution: Die Geschichten der Neuen

Radikalisiert das Internet den Flüchtlingsdiskurs in Europa? Wie wird die Meinung über Migranten in sozialen Medien gesteuert? Sind Smartphones Katalysator für die Flucht? Wie sich die Flüchtlingskrise im Netz spiegelt beleuchtet eine Serie in Kooperation mit unserem Medienpartner euro|topics. Bis zur #rpTEN publiziert euro|topics alle zwei Wochen eine Debattenschau mit Stimmen aus Print und Online.

Geflohene berichten in Blogs, Zeitungsartikeln und sozialen Medien über ihre Flucht, ihren Start in ein neues Leben, bürokratische Hürden und über Kulturschocks. Und sie erklären, wie Schokoriegel und Häkeln dabei helfen, sich ein bisschen mehr zu Hause zu fühlen.

Der Mann mit dem Hipster-Bart und der auffälligen Haartolle schaut herausfordernd in die Kamera: "Hallo. Mein Name ist Mahmoud Bitar. Ich komme aus Syrien. Und ich erzähle Euch von Syrien." Bitar floh vor drei Jahren aus seinem Land und landete nach einer langen Reise letztendlich in Schweden. Dort lebt er, dort filmt und kommentiert er seinen Alltag. Auf Facebook folgen ihm mehr als 460.000 User. Vergangenen August machte er Schlagzeilen auch außerhalb von Schweden, als er seinen Landsleuten den Tipp gab: "Kommt nicht hierher!" Die Flüchtlinge, so kritisierte er, hätten ein unrealistisches Bild von dem skandinavischen Land. Wie ernst Bitar seine Empfehlung meinte, ist schwer zu sagen. In seinen Videos überspitzt er oft, seine Kommentare wirken impulsiv, ein bisschen überdreht. Doch im Hintergrund zeigen die Filme die schwedische Realität: Friedlich, sauber – und ziemlich öde. Bitars größter Wunsch wäre es, irgendwann zurückzukehren nach Syrien.

"Wir mussten ständig weinen"

In vielen Ankunftsländern Europas schreiben, bloggen oder filmen Geflohene. Sie berichten über ihre Flucht, über ihren Start in ein neues Leben, über bürokratische Hürden und über Kulturschocks. Die junge syrische Journalistin Wafa Mustafa, die mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in die Türkei floh, nachdem ihr Vater vom Regime verhaftet worden war, berichtet in El Huffington Post, der spanischen Ausgabe des US-Blogportals, über ihre ersten Tage in der türkischen Stadt Mersin: "Wir lebten ungefähr drei Monate dort und konnten uns nicht erklären, warum wir ständig weinen mussten. Jedes Mal, wenn wir versucht haben, es herauszufinden, konnten wir es nicht genau sagen. Es gab eine Menge Gründe, aber am Ende ging es immer darum: wir hatten kein Lebenszeichen von meinem Vater, ein Haus und eine Familie, die wir ohne Abschied verlassen mussten, Erinnerungen an Bilder, Stimmen und Träume – und unser Fremdsein, das uns die Möglichkeit nahm, unser Leben zu leben."

Naïm, ein 29-jähriger Syrer, floh mit seinen Geschwistern und deren Kindern aus seiner Heimatstadt Homs über Marokko nach Paris zu Verwandten. In der französischen Zeitung Libération berichtet er etwa über die immensen Kosten der Flucht: "Das Teuerste war für uns die Überquerung der Grenze von Marokko nach Melilla. Wenn du ein Mann bist, der allein flieht, kannst du die Schlepper um einen Nachlass bitten. Wir waren jedoch eine Familie mit Frauen und Kindern, die Angst hatten. Insgesamt mussten wir 37.000 Euro bezahlen, nur um über diese Grenze zu gelangen. Per Bus und TGV sind wir dann nach Paris weitergereist. Jetzt haben wir all unsere Ersparnisse aufgebraucht."

"Ich suche kein Geld, ich suche Frieden"

Um Asylbewerbern in Finnland eine Stimme zu geben, starteten finnische Journalisten, Fotografen und Dolmetscher vergangenen Herbst die Facebook-Seite "Stories from the Reception Centre". Sie wollten damit die Einzelschicksale hinter den Statistiken erzählen und damit Finnen und Flüchtlinge besser miteinander bekannt machen. Es sind Geschichten wie jene von Asia aus Somalia. Die junge Lehrerin floh zuerst aus ihrer Heimatstadt Badoa in die Hauptstadt Mogadischu, nachdem die al-Shabaab-Miliz ihren Vater getötet hatte. Doch auch in Mogadischu, wo sie für eine NGO arbeitete, die Jugendliche unterstützt, war sie nicht sicher vor den Islamisten. Und so floh sie erst in die Türkei und dann nach Europa. "Oft wusste ich gar nicht, in welchem Land ich war. Ich kaufte einen Fahrschein und wurde zu einem Zug geleitet, ohne überhaupt zu wissen, wohin er fährt", berichtet Asia von ihrer Flucht. In Finnland angekommen fühlte sie sich erstmals in Sicherheit. "Ich bin nicht auf der Suche nach Geld, ich suche den Frieden. Aber ich würde gern wieder arbeiten und somalischen Mädchen helfen", erzählt die 21-Jährige.

Cornflakes, Mars du Twix wie zu Hause

Kommen Flüchtlinge in Europa an, müssen sie sich erst einmal zurechtfinden in einer für sie fremden Umgebung, einer fremden Sprache und einer fremden Kultur. Gut, wenn es dann etwas gibt, was an zu Hause erinnert, wie etwa bestimmte Produkte in den Supermärkten. Die Syrerin Layla und ihre Familie schildern einmal in der Woche in der niederländischen Zeitung De Volkskrant, wie es ihnen in den Niederlanden ergeht. Layla erklärt dort, warum sie lieber im teuren statt im günstigen Supermarkt einkauft, obwohl sie pro Woche mit 68 Euro für Frühstück und Mittagessen für die vierköpfige Familie auskommen muss: "Weil sie dort die Marken haben, die meine Kinder aus Saudi-Arabien kennen. Cornflakes, Mars und Twix. Ich will, dass für sie alles so normal wie möglich ist." In Saudi-Arabien hatte die Familie eine Weile gelebt, bevor sie über die Türkei nach Griechenland und von dort in die Niederlande kam. Noch warten sie darauf, dass ihr Asylverfahren dort beginnt und um sich abzulenken, häkelt Layla Deckchen und stickt Vögel auf Kissen. "Wenn ich sticke, denke ich nicht an andere Dinge", erzählt sie. Auch ihren neunjährigen Sohn Ziad hat sie schon angesteckt. Kürzlich hat er seinen ersten Untersetzer gehäkelt. Als Farbe suchte er sich rot, weiß und blau aus: die Flagge der Niederlande.

Bildernachweis: Metropolico.org (CC BY-SA 2.0)

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